Oral History

Was heißt «Oral History»?

Der Begriff «Oral History» bezeichnet in erster Linie mündliche, lebensgeschichtliche Interviews mit Zeitzeugen/innen. Innerhalb der Geschichtswissenschaft ist die Oral History eine relativ junge Methode, welche seit den 1960er Jahren vermehrt auch in Deutschland angewendet wird. Auch aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten werden Oral History Projekte mit verschiedenen Schwerpunkten mittlerweile weltweit angestoßen und umgesetzt. Die Oral History etabliert sich somit mehr und mehr als Bestandteil von Forschungen zu unterschiedlichen Themen. Die Interviews, welche im Rahmen eines Oral History Projekts entstehen, können sowohl als ergänzende Quelle dienen, als auch Themenbereiche beleuchten, die sich durch andere Quellenformen schlecht oder gar nicht erschließen lassen. Genutzt werden Oral History Interviews in Ausschnitten zudem in der Vermittlung, vor allem als Dokumente von Zeitzeugen im Museum oder in Filmdokumentationen.

 

Warum macht man «Oral History»?

Die Oral History wird immer wieder als Methode für die «Geschichte von unten» bezeichnet, einer Geschichtsschreibung also, die es auch nichtöffentlichen Personen erlaubt zu Wort zu kommen und in einer klassischen Quellenauswahl wenig Platz finden. Grade in Deutschland bediente sich die Sozial- und Arbeitergeschichte unter Lutz Niethammer im Rahmen eines umfangreichen Projekts (LUSIR) in den 1980er Jahren der Oral History um die Lebenswelten der Menschen im Ruhrgebiet zu erforschen. Auch innerhalb der Forschung zum Holocaust, zu Diktaturen oder politischer Unterdrückung wurde sowohl von Seiten der Historiker/innen, als auch von Seiten der Sozialwissenschaftler/innen immer wieder mit den Methoden der Oral History gearbeitet.

Interview in einem Privatgarten in Münchenthal.

In der Oral History geht es vor allem um die persönlichen Narrative der Befragten, um ihre Schwerpunkte in der Erzählung bestimmter Ereignisse und des eigenen Lebens und um ihre spezifische Wahrnehmung. Durch die Interviews ist es möglich individuelle Eindrücke aus dem Alltagsleben der Befragten zu erhalten und ihre Wahrnehmung verschiedener Ereignisse zu untersuchen, denen sie als Zeitzeugen/innen beiwohnten. Allerdings sei angemerkt, dass neben den lebensgeschichtlichen Interviews, bei denen es um alltägliches Leben geht, vor allem Interviews mit dem Blick auf die Opfer bestimmter Begebenheiten geführt werden. Oral History beleuchtete also häufig die Opfergeschichten, dies ergibt sich vor allem durch den Zugang zu den Interview Partnern, eine Person, die man auf einer Täterseite verorten würde als Zeitzeugen/in zu gewinnen, ist vergleichsweise schwieriger, als Personen zu finden, die durch politische Herrschaft oder andere Begebenheiten zu Opfern und Unterdrückten wurden.

 

Wie führt man die Interviews?

Eine gängiger methodischer Ansatz der Oral History ist es, am Anfang des Gesprächs eine sehr weitläufige Frage zum Leben des Interviewten zu stellen und im ersten Teil des Interviews möglichst wenig durch weiterführende und spezifizierte Fragen und Anmerkungen einzugreifen. Der/Die Interviewte erlangt so die Gelegenheit die Themenschwerpunkte des Gesprächs innerhalb des gesetzten Rahmens weitgehend frei zu entscheiden.

Während die ersten Projekte in diesem Bereich Tonaufnahmen und Transkripte produzierten, werden heute neben der Tonaufnahme in der Regel auch Videos des Interviewten produziert, welche hinterher transkribiert und auf verschiedene Arten aufgearbeitet und zur Verfügung gestellt werden können.

Interview im Haus in Münchenthai (Muschylowytschi)

Was für Probleme ergeben sich aus der Methode?

Die Oral History wird häufig mit dem Vorwurf der Subjektivität der Interviews konfrontiert, Zeitzeugeninterviews werden allerdings seit den 1980er Jahren zunehmend und vor allem im Zuge der Aufarbeitung des Holocausts verwendet und gehören sind mittlerweile eine gängige Quellenform innerhalb der Geschichtswissenschaften. Auch klassischere Quellenformen unterliegen einer gewissen Subjektivität. Die Oral History muss somit, wie jede andere Quelle auch, einer Quellenkritik unterzogen werden und kommt hinsichtlich der meisten forschungsrelevanten Fragestellungen nicht ohne weiterführende Untersuchungen aus.

Ein weiterer Faktor der Oral History ist, dass der/die Interviewer/in durch seine Auswahl des/der Interviewpartners/in, durch seine/ihre Fragestellungen, aber auch durch seine Anwesenheit und den direkten Kontakt zum/zur Interviewten, zum Teil der eignen Quelle wird. Er ist mit der Produktion der Quelle in mehrfacher Hinsicht untrennbar verbunden. Auch weitere äußere Umstände beim Entstehen der Quelle müssen dokumentiert und in die Quellenkritik einbezogen werden. Die Raumsituation, das Verhältnis der Interviewpartner/innen zueinander, die während des Interviews anwesenden Menschen und die Art der Aufzeichnung.

So kann es beispielsweise passieren, dass der/die Interviewte nachträglich durch eine politische Verschiebung in seinem Land durch die Inhalte veröffentlichen Interviews in eine schwierige Situation geraten kann oder dass die Interviewten aus persönlichen Gründen Teile der Interviews nachträglich nicht mehr veröffentlich sehen wollen. Das Material benötigt somit nicht nur eine technische Betreuung und Emigration zu neuen technischen Systemen, sondern auch eine weiterführende inhaltliche Betreuung und Ansprechpartner/innen. Vor allem in den Zeiten der weltweiten Veröffentlichung der Interviews als Transkripte, Videos und Audiodateien im Internet müssen dauerhafte Ressourcen für die Nutzung und die digitale Archivierung geschaffen werden.

Interviewsituation in Mizoch

Wie haben wir die Interviews geführt? 

Das Meet-Up Projekt 2016 hat insgesamt in sechs verschiedenen Orten in westlichen Gebieten der Ukraine und in Rumänien insgesamt vierzehn Interviews auf Video aufgezeichnet, die Interviews wurden zum größten Teil, mit Ausnahme von zwei deutschsprachigen Interviews, auf Ukrainisch geführt. Meist befragten mehrere Interviewer/innen die Zeitzeugen/innen und lokalen Historiker/innen, zum Ende der Interviews wurden zudem zusätzliche Fragen von den während des Interviews anwesenden Personen gestellt. Die Interviews fanden an verschiedenen Örtlichkeiten statt, sowohl in den Häusern oder Gärten der Zeitzeugen/innen, als auch in öffentlichen Gebäuden der jeweiligen Dörfer und Städte, unter anderem in örtlichen Schulen, Gemeindezentren, einem lokalen Museum, einer Universität und dem deutschen Vereinshaus in Radautz (Rumänien). Zwischen den Interviewten und den Interviewern gab es im Vorfeld keinen Kontakt oder Austausch und zum Teil nur wenige Informationen. Die befragenden Studenten/innen waren jedoch in der Regel mit der Geschichte des Ortes, den sie besuchten und an dem sie die Befragungen durchführten, vertraut. Die befragten Personen hatte unterschiedliche Funktionen inne, so waren es ortsansässige Zeitzeugen/innen, lokale Historiker/innen, die teilweise bereits zuvor ihre Geschichte publiziert oder erzählt hatten, zum Teil allerdings auch erstmalig interviewt wurden.

Im Vergleich zur gängigen Methodik der Oral, bei denen offene Frage zu lebensgeschichtlichen Ereignissen gestellt werden und vorerst wenig in die Erzählung der Interviewten eingegriffen wird, lassen sich beim Meet Up Projekt einige Abweichungen im Vorgehen feststellen. Die Interviewten trafen auf mehrere, ihnen unbekannte, zum Teil innerhalb des Gesprächs wechselnde Gesprächspartner, der Fragenkatalog war vergleichsweise reichhaltig, gemessen an einer begrenzten Zeit der Interviews, zudem beeinflusste die teilweise ungünstige Raumsituation die Gespräche.

 

Situation vor Ort

Prinzipiell ist davon auszugehen, dass Zeitzeugen/innen am besten in einem gewohnten Umfeld mit wenig störenden Faktoren befragt werden sollten, diese Situation lies sich beim Meet-Up Projekt häufig nicht einrichten. Dies lag sowohl an den örtlichen Begebenheiten, als auch an der Kamera und der Anwesenheit von zahlreichen Menschen während der Interviews, die nicht in den direkten Prozess der Interviewführung eingebunden waren. So waren in der Regel während aller Interviews größere Gruppen von Studenten/innen anwesend, die dem Geschehen folgten, allerdings ebenso lokale Persönlichkeiten, zum Teil mit repräsentativer Funktion oder Landsleute der befragten Zeitzeugen/innen, sowie lokale Forscher/innen. Während der Gespräche wurden Teile der Interviews im Hintergrund durch die ukrainischen Studenten/innen für die deutschen Projektteilnehmer/innen simultan übersetzt.

Die Videoaufnahmen stellten für einige der Interviewten eine ungewohnte Gesprächssituation dar, zudem mussten die Interviews teilweise aus technischen Gründen (Wechsel der Akkus oder Speicherkarten) kurzzeitig unterbrochen werden, was die Aufmerksamkeit der Interviewten von der eigenen Geschichte zur ungewöhnlichen Gesprächssituation lenkte. Diese Faktoren können Auswirkungen auf den Gesprächsverlauf nehmen. In einigen, konkreten Fälle war festzustellen, dass die Zeitzeugen/innen innerhalb der Gespräche aus verschiedenen Gründen Sachverhalte nicht beschrieben, die sie den Studenten/innen außerhalb der Interviewsituation, ohne Kamera und andere anwesende Personen, anvertrauten. Diese Aspekte müssen als Teil der Situation erfasst und innerhalb der Quellenkritik in einer Analyse dokumentiert werden.