Kysylyn - Dorf in Wolhynien

Regionahistorikerin Oksana Sutschuk vor sowjetischen Denkmal in Kysylyn.
Regionahistorikerin Oksana Sutschuk vor sowjetischen Denkmal in Kysylyn.

Der Ort Kysylyn, ein Beispiel für die multiethnische Bevölkerungszusammensetzung eines Dorfes in Wolhynien vor dem Zweiten Weltkrieg, war zwischen 1941-1943 sowohl Schauplatz der nationalsozialistischen Exterminationspolitik an den Juden als auch des polnisch-ukrainischen Konfliktes. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten etwa 48 ukrainische, 57 polnische und 61 jüdische Familien im Dorf. Der Ort - wie die gesamte Region - wurde zwischen 1939 und 1943/44 drei Mal besetzt. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde das bis dato in Polen gelegene Gebiet von der Sowjetunion annektiert, bis Ende Juni 1941 deutsche Soldaten der 6. Armee das Dorf besetzten.

 

Noch unter der vorübergehenden Militärverwaltung während der deutschen Besatzung wurde eine Hilfspolizei aus ukrainischen Dorfbewohnern eingerichtet und am 19. August 1941 eine erste gewalttätige Aktion ausgeführt, bei der 48 Juden und zwei ukrainische Kommunisten ums Leben kamen. Unter der deutschen Zivilverwaltung schließlich wurde am 1. November 1941 ein Ghetto eingerichtet, in das auch die Juden der Nachbarorte Oziutichi, Kholopichi, Tverdynia und Iukhimova gesperrt wurden. Zur Kenntlichmachung mussten auf der Kleidung gelbe Flecken auf Brust und Rücken angebraucht werden. Die Juden durften das Ghetto nicht verlassen, außer um Zwangsarbeiten zu verrichten. Im August 1942 wurde die jüdische Bevölkerung durch ein deutsches Exekutionskommando erschossen, wobei die Aushebung des Massengrabs in der Nähe des polnischen Friedhofs auf einer leicht ansteigenden Ebene Aufgabe der lokalen Bevölkerung war. Vor der eigentlichen Erschießung mussten die Juden ihre Kleidung ablegen und nackt in die ausgehobene Grube steigen. Bei der Liquidierung des Kysylyner Ghettos wurden also zwischen 500-550 Juden in unmittelbarer Nähe des Dorfes umgebracht.

Den nächsten Punkt der Gewaltgeschichte in Kysylyn markiert das Massaker von Ukrainern an der polnischen Dorfbevölkerung, die am 11. Juli 1943 in der römisch-katholischen Kirche kurz nach der Sonntagsmesse attackiert wurde, fand in einem Vakuum der Machtverhältnisse zwischen den deutschen Besatzern und der seit dem Sieg in Stalingrad vorrückenden Roten Armee statt. Zwischen 60 und 90 polnische Zivilisten fielen der Aktion in Kysylyn zum Opfer, die sowohl von Mitgliedern der nationalorientierten Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) als auch von ukrainischen Dorfbewohnern ausgeführt wurde. Der Überlieferung nach mussten sich die Polen vor ihrer Erschießung ebenso wie die Juden entkleiden. Das Massaker ist in einen weiteren regionalen Kontext einzubetten, da am selben Tag in Wolhynien etwa 10.000 polnische Zivilisten von Mitgliedern der UPA in organisierten Angriffen ermordet wurden.

Nach der Wende des Krieges in Stalingrad im Februar 1942 veränderte sich die Machtverteilung in der Westukraine extrem; einst ukrainische Polizisten, die die Nationalsozialisten unterstützten, kehrten diesen den Rücken und traten in die UPA ein (wobei die Zahl derjenigen, die gezwungen wurden in die UPA einzutreten auf etwa 50% geschätzt wird), sodass 1943 die UPA mit rund 20.000 Soldaten Wolhynien kontrollierte. Auch die Polen änderten zu einem großen Teil ihre Anhängerschaft: Einige schlossen sich den deutschen Besatzern an und rund 5000 bis 7000 Polen unterstützten sowjetische Partisanen.

 

Dies aber nicht aus Sympathie zum Regime, sondern um sich selbst verteidigen zu können: auf der einen Seite den praktischen Umgang mit Waffen zu erlernen, andererseits und wahrscheinlich vordergründig auch um mit Waffen ausgestattet zu sein. Insgesamt kamen im polnisch-ukrainischen Konflikt zwischen 1943-44 bis zu 60.000 Polen und 10.000 Ukrainer in den gegenseitigen Massakern zu Tode.

 

 

Blick auf die Kirche von Kysylyn vom Ortsrand.
Blick auf die Kirche von Kysylyn vom Ortsrand.
Inschrift des Holocaust-Memorials in Kysylyn.
Inschrift des Holocaust-Memorials in Kysylyn.

In Kysylyn befinden sich mehrere Denkmäler, die diese Ereignisse erinnern. Zunächst ein sowjetisches Denkmal, das hauptsächlich der zwei exekutierten Kommunisten gedenkt, ohne näher auf die jüdischen Toten einzugehen. Neben der heutigen Ruine der ehemaligen römisch-katholischen Kirche befinden sich drei Kreuze, zwei davon mit Inschriften auf Polnisch sowie ein großes mit einer Inschrift in ukrainischer Sprache und von ukrainischen Behörden aufgestellt, das jedoch nicht genau die Umstände der Ereignisse des 11. Juli 1943 kontextualisiert, z.B. die UPA nicht erwähnt. 2015 wurde auf Initiative des American Jewish Comittee mit finanzieller Unterstützung des deutschen Auswärtigen Amtes in Kysylyn sowie in vier benachbarten Orten ein Holocaustmahnmal errichtet. Die Friedhöfe sowohl der jüdischen als auch der polnischen ehemaligen Bevölkerung sind noch vorhanden, jedoch befinden sie sich in einem sehr vernachlässigten Zustand, was besonders den jüdischen Friedhof betrifft.

 

 

Eine bestimmende Rolle spielt Kysylyn vor allem für die Erinnerung des polnisch-ukrainischen Konflikts, da das dortige Massaker durch mehrere Zeugenaussagen besonders gut überliefert ist und der Ort somit in der polnischen Erinnerung einen exemplarischen Status genießt. Dieser ist zusätzlich unterstrichen durch den Versuch einer Annäherung der zwei Nationen durch den symbolischen Besuch des Dorfes vom polnischen sowie ukrainischen Präsidenten. Kysylyn ist also Objekt einer bestimmten und umfassenderen Erinnerungspolitik bzgl. des polnisch-ukrainischen Konfliktes, was man auch an dem 2009 realisierten polnischen Dokumentarfilm „Było sobie miasteczko...“ („Es war einmal ein Städtchen…“) sehen kann, der die Familiengeschichte des bekannten polnischen Komponisten Krzesimir Dębski als Grundlage benutzt. Aber auch die Erinnerung an den Holocaust ist sehr präsent in Kysylyn. Was die Frage aufwirft, ob die Erinnerungskultur und das Gedenken an die Opfer des Holocaust und an die Opfern des polnisch-ukrainischen Konflikts in Kysylyn vergleichbar ist und wo und warum Unterschiede festzumachen sind?

 

In Kysylyn wurden drei Interviews geführt, davon eins mit einer Zeitzeugin und zwei mit lokalen Expertinnen. Das zweite Experteninterview wurde für diese Analyse nicht betrachtet. Die Interviews wurden in der Dorfschule geführt, wobei die beiden Expertinnen parallel zu der Zeitzeugin in einem anderen Klassenraum interviewt wurden.

 

Zu den Interviews in Kysylyn 

Verwahrloster jüdischer Friedhof in Kysylyn.
Verwahrloster jüdischer Friedhof in Kysylyn.